Gedenken an Oury Jalloh
Oury Jalloh war ein Zauberer laut Polizeibericht
Vollführte im Verborgenen sein größtes Meisterstück
Hat mit Händen und mit Füßen fixiert an Grund und Wand
Sich auf feuerfester Matte in Schutzhaft selbst verbrannt
Wie man von Einzelfällen sprechen kann? Ich werd‘ es nie verstehen
Enno Bunger – Wo bleiben die Beschwerden?
Heute vor zwanzig Jahren ist ein Mann in einer Gewahrsamszelle in Dessau an Händen und Füßen gefesselt verbrannt, nachdem er rechtswidrig in Gewahrsam genommen worden war. Von seinem Nasenbein aus reichte ein Bruchsystem bis in den Schädel, zusätzlich war eine Rippe gebrochen. Es handelte sich hierbei um Verletzungen, die ihm noch zu Lebzeiten zugefügt wurden. Oury Jallohs Körper und die schwer entflammbare Matratze, auf der er verstorben ist, waren so verkohlt, dass Experimente im Rahmen mehrerer Brandgutachten, unter anderem eines der Staatsanwaltschaft Dessau, die Notwendigkeit von mindestens zwei Litern Benzin als Brandbeschleuniger ergaben – auf die Frage, wo er diesen Brandbeschleuniger zusammen mit dem unter fraglichen Umständen aufgetauchten und nicht in Einklang mit dem Brandgeschehen zu bringenden Feuerzeug herbekommen haben soll, gibt es keine Antwort.
Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh kämpft seit zwanzig Jahren für die Aufklärung des Falls (Chronologie). Bis heute gibt es nur eine einzige rechtliche Konsequenz für die beteiligten Polizist*innen: Der Dienstgruppenleiter wurde zu 120 Tagessätzen verurteilt, weil er die ständige optische Überwachung der Gewahrsamszelle nicht sichergestellt hat. Außerdem wurde die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung festgestellt – die Beamt*innen hätten Oury Jalloh überhaupt nicht in Gewahrsam nehmen dürfen.
Davon abgesehen ist viel passiert, um die Ermittlungen zu behindern – es verschwanden zentrale Beweismittel wie z. B. die Bilder der Atemwege und eine der Handfesseln, außerdem wurden keine Röntgenaufnahmen des verkohlten Körpers gemacht. Ein Prozess gegen zwei Polizisten im Jahre 2008 endete mit Freisprüchen (teilweise später durch den Bundesgerichtshof gekippt), von denen selbst der vorsitzende Richter Manfred Steinhoff nicht inhaltlich überzeugt war: Er stellte klar, dass es sich um ein formal notwendiges Ende des Prozesses handle, das nichts damit zu tun habe, dass das Geschehen am 07. Januar 2005 tatsächlich aufgeklärt worden sei. Dies sei durch die Polizist*innen durch Verheimlichung, Vertuschung und Mauern verhindert worden. “Das Ganze hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun”, sagte Steinhoff in der mündlichen Urteilsverkündung.
Im Sommer 2023 hat die Familie von Oury Jalloh Menschenrechtsbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, der EGMR hat bisher kein Urteil gefällt.
Angesichts der Polizeigewalt von Fassungslosigkeit zu sprechen ist zynisch: Nur wer systematisch wegschaut und sich nicht für die Opfer interessiert, kann überhaupt noch eine Fassung besitzen, die verlierbar wäre. Polizeigewalt ist alltäglich, eine ihrer Zielgruppen sind migrantisch gelesene Menschen, und sie ist so grausam wie erwartbar angesichts des absoluten Fehlens ernsthafter Aufklärung. Es werden jedes Jahr mehr als 2.000 Fälle von Polizeigewalt in Deutschland angezeigt, von denen weniger als vierzig in einem Gerichtssaal verhandelt werden und weniger als zwanzig mit einer Verurteilung enden – das sind weniger als zwei bzw. ein Prozent. Die Dunkelziffer von unrechtmäßiger Polizeigewalt wird auf etwa 12.000 Fälle pro Jahr geschätzt. Damit liegt die tatsächliche Aufklärungsquote bei unter einem Fünftel eines Prozents.
In der Galerie der Menschen, die durch unseren Freund und Helfer getötet wurden, steht Oury Jalloh nicht alleine da: Erst letzten Monat wurden alle fünf Polizist*innen, die am Tod von Mouhamed Lamine Dramé beteiligt waren, freigesprochen. Die Feinheiten dieses Unschuldspruchs, der auf einem Erlebnistatbestandsirrtum beruht und in dem der polizeiliche Einsatz mindestens in Teilen rechtswidrig eingestuft wurde, sind zwar juristisch relevant, für die Außenwirkung und in letzter Konsequenz aber gesellschaftlich unerheblich, denn auch am Ende dieses Prozesses verlassen die angeklagten Polizist*innen ohne jegliche rechtliche Folgen den Gerichtssaal.
Auch hier in Essen ist Polizeigewalt und der Mangel an Konsequenzen ständiges Thema: Essener Polizist*innen schlugen einen Mann krankenhausreif und machten hinterher falsche Aussagen, um sich vor Strafe zu schützen, im Fall des erschossenen Adel B. wurden alle Polizist*innen freigesprochen, gegen minderjährige Teilnehmer*innen einer friedlichen Demonstration setzte die Polizei massive Gewalt ein, einer Schwarzen Frau, die den Diebstahl ihres Portemonnaies zu melden versuchte, wurde ins Gesicht geschlagen, bevor sich mehrere Polizist*innen auf sie knieten.
Das Signal all dieser Fälle – die sich neben hunderten weiterer Fällen im gesamten Land in ein grauenhaftes Bild einreihen – ist eindeutig: Polizist*innen werden viel zu selten zur Rechenschaft gezogen, egal ob es sich “nur” um unangemessene Verwendung von Schlagstöcken und Pfefferspray handelt oder ob es um das vollständige Verbrennen eines Menschen unter den aufmerksamen Augen der Polizei geht.
Die Polizei soll die Menschen in diesem Land schützen, doch es fehlt ein wirksamer Mechanismus zur unabhängigen Überwachung und Kontrolle der Polizei, wenn sie nicht nur darin versagt, uns zu schützen, sondern sogar selbst zur Täterin wird.
Ermittlungen werden zwar regelhaft nicht durch das jeweilige Polizeirevier geführt, aber der Korpsgeist innerhalb der eigenen Reihen wirkt auch über Bezirksgrenzen hinweg und Staatsanwaltschaften vermeiden es, sich ihre Beziehungen zur Polizei zu ruinieren. Ohne ernsthaftes Interesse an Aufklärung durch die mit dieser Aufgabe befugten Instanzen ist der Rechtsstaat ein zahnloser Tiger – und Menschen sterben, ohne dass die Täter*innen Konsequenzen erfahren.
Wir sind in unseren Gedanken bei den Opfern, Angehörigen und Freund*innen, und in unserer verständnislosen Wut bei der Polizei und dem System, das solche Grausamkeiten ermöglicht.