Staatssturz, Holocaustrelativierungen und Verschwörungserzählungen in Essen

Staatssturz, Holocaustrelativierungen und Verschwörungserzählungen in Essen

Seit einigen Wochen verabreden sich Anhänger:innen diverser Verschwörungserzählungen in Telegram-Gruppen immer wieder zu unangemeldeten Versammlungen, die sie selber verharmlosend als „Spaziergänge“ bezeichnen. Vorgeblich geht es ihnen um Kritik an den Corona-Maßnahmen, doch dieser Grund ist nur vorgeschoben. Tatsächlich geht es ihnen um das Unterwandern von Recht und Gesetz, das Aufwiegeln gegen den Staat bis hin zum Fordern eines Staatsstreichs.

Kein Wunder, dass sich von Anfang an Mitglieder der Extremen Rechten an diese Protestform angebiedert, beteiligt und mitorganisiert haben. Über möglichst breitenwirksame „Protestbewegungen“ versucht die Extreme Rechte ihren Wirkungskreis auszubauen und mehr Menschen für ihre Ideologie zu begeistern. Dabei versucht sie sich möglichst bürgerlich, nahbar und – aller faktischer Bigotterie zum Trotz – als Kämpferin für Freiheit zu inszenieren. Die Strategie geht auf: bundesweit sind die Proteste mit Akteur:innen der Extremen Rechten durchsetzt. Dabei muss betont werden, dass die Proteste und Aufmärsche nicht „plötzlich“ unterwandert worden sind, sondern Rechte von Anfang an Teil davon waren.

Keine „Spaziergänge“

Es gibt regionale Unterschiede und Besonderheiten. Insbesondere die Aufmärsche im Osten Deutschlands sind davon geprägt, dass vielerorts die Extreme Rechte die maßgebende Rolle bei der Mobilisierung spielt und auf starke und gewaltvolle Konfrontation zu Polizei und Staat geht. In NRW hingegen tritt die Szene zumindest nach außen weniger konfrontativ auf, organisiert sich jedoch in ähnlicher Art und Weise via Telegram.

Dabei wird immer wieder der Begriff des „Spaziergangs“ verwendet. Eine bewusste Lüge und Beschönigung, denn die Versammlungen gegen Maßnahmen sind politische Versammlungen. Durch die Behauptung eines „Spaziergangs“ versuchen die Maßnahmen-Gegner:innen das Versammlungsgesetz zu umgehen. Ihr Ziel ist dabei die Ordnungsbehörden vorzuführen und die Versammlung vor ihnen geheim zu halten. Dies soll durch die Vermeidung einer eigentlich notwendigen Versammlungsanzeige gegenüber der Versammlungsbehörde gelingen, was, wie die Erfahrung zeigt, nur all zu oft fruchtet. Die Behörden haben augenscheinlich in Telegram organisierte Versammlungen zur Umgehung des Versammlungsgesetzes nicht auf dem Schirm und werden dann von ihrem vom Zustandekommen „überrumpelt“.

Das Konzept der „Spaziergänge“ ist allerdings schon älter als die Anti-Corona-Proteste. Rechte selbsternannte „Bürgerwehren“ nutzen diese Form schon seit längerem, teils ebenfalls mit Erfolg und führen somit die Polizei an der Nase herum. Die „Steeler Jungs“ mussten ihre politischen Versammlungen gegenüber der Polizei zwar zeitweise anmelden, genießen inzwischen aber Narrenfreiheit.

Corona-Gruppen in Essen

Die Essener Corona-Leugner:innen-Szene ist zerklüftet. Hat sich in den meisten NRW-Städten eine einzige Telegram-Gruppe für die Organisation des „Protests“ etabliert, existieren hier je nach Zählweise zwischen 4-6. Alle Gruppen haben den Anspruch, den Protest zu kanalisieren und den Ton anzugeben. Dabei ist besonders die Telegram-Gruppe mit dem Titel „UNBESIEGBAR“ (im Folgenden „Unbesiegbar“) von Interesse. In ihr tummeln sich 744 Mitglieder (Stand 01.01.2022, 13:53), was sie mit Abstand zur größten für die Essener Community macht (die nächstgrößte Gruppe hat 393 Mitglieder; selbst die offizielle „Querdenken“-Gruppe hat weniger als die zweitplatzierte).

Unbesiegbar

Die Gruppe wurde am 15.11.2021 gegründet. Administriert wird sie von den Administrator:innen „Marky“ und „Goldy“, die auf Telegram jeweils das Gruppenlogo als Profilbild verwenden. Bei ersten über Telegram organisierten Treffen am 28.11.2021 fand man sich noch auf einem Parkplatz in Essen-Haarzopf Neue Mitte zusammen. Das zweite Treffen am 05.12.2021 fand ebenfalls in Haarzopf, allerdings etwas abgelegener auf einem Feldweg vor dem „Haus des Lernens“, statt. Administrator „Marky“ bedankte sich als Rädelsführer bei allen Erschienenen und führte dann einen unangemeldeten Zug, getarnt als „Spaziergang“, durch das Wohnviertel an.

 

Verschwörungserzählungen als Anknüpfungspunkte

In der Gruppe werden sämtliche gängigen Verschwörungsideologien geteilt: Satanismus, Okkultismus, Pharma-Verschwörungen, Reichsbürger-Gedankengut, Antikommunismus, Q-Anon, Prepper-Szene, Wettermanipulation und der gleichen mehr. Für alle Gruppenmitglieder ist die passende Verschwörungserzählung mit dabei. Diese Vielfalt an Verschwörungserzählungen, die oftmals mit einem wohlwissenden Kommentar quittiert werden, dass man sich bereits damit auskenne, da man „aufgewacht“ sei, stärkt die Gruppe, da sie weithin anschlussfähig ist.

So kommt es nicht von ungefähr, dass der Aufruf zu den Treffen in einer Telegram-Gruppe der rechtsradikalen Gruppierung „NRW stellt sich quer“ geteilt wurde. Harald B., einer der führenden Köpfe von „NRW stellt sich quer“, ist Mitglied in „Unbesiegbar“.

 

Administrator:innen

Zeigten sich die beiden Adminstrator:innen „Marky“ und „Goldy“ zunächst eher zurückhaltend, fällt es insbesondere „Marky“ zusehends schwerer, mit den eigenen Ansichten hinter dem Zaun zu halten. So hat er sich in den Wahn einer „satanische Clique“ hereingesteigert, die eine „Plandemie“ (sic!) und zwar „global“ initiiert hätte. Klassische Verschwörungsmythen an der Grenze zu antisemitischen Deutungsmustern, wie die Erzählung von einer im Geheimen operierenden „globalistischen Elite“.

Als ein Account mit dem Pseudonym „Dieter aus Bottrop“ nationalsozialistische Propagandavideos in die Gruppe teilt, gibt es zumindest von einer der knapp 700 Mitglieder einen Widerspruch. „Marky“ jedoch geht drauf ein und stellt die Schuld Deutschlands an den beiden Weltkriegen in Frage und fragt rhetorisch: „Die Geschichte wird doch nicht eine LÜGE sein oder ?“ (Schreibweise wie im Original). Auch hier bewegt er sich bewusst am Rande der Holocaustleugnung.

 

Im weiteren Verlauf nimmt er abermals Bezug auf das antisemitisches Narrativ der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung.

 

Hinter dem Profil „Marky“ steckt der gebürtige Amerikaner und in Haarzopf lebende Mark M. (Name der Redaktion bekannt). Seine Frau, Honorata M., tritt als „Goldy“ in Erscheinung. Beide verdingen sich ansonsten als Künstler:innen im Bereich der Schlagermusik, führen ansonsten ein durch und durch bürgerliches Leben.

Abgedriftet in den Sumpf von Verschwörungserzählungen und Anknüpfungspunkten mit der Extremen Rechten sind sie aber schon länger. Online teilen sie Inhalte des Rechtsradikalen und Antisemiten Attila Hildmann oder des Rechtsradikalen Nicolai „Der Volkslehrer“ Nerling, nehmen freudig positiv Bezug auf die Meldung von einem Oberfeldwebel, der zu einem Umsturz aufgerufen hat, agitieren gegen LGBTIQ* und setzen die Corona-Maßnahmen fortlaufend mit dem Nationalsozialismus gleich.

Von Haarzopf nach Düsseldorf nach Essen

Nach den ersten Treffen in Haarzopf hat sich das Ehepaar M. darauf konzentriert, nach Düsseldorf zu mobilisieren. Alle Veranstaltungen, die in den sonstigen Essener Telegram-Gruppen organisiert wurden, wurden konsequent in „Unbesiegbar“ blockiert, Nutzerinnen aus der Gruppe entfernt, wenn sie Werbung für diese Veranstaltungen gemacht haben. Das Ehepaar sieht sich als Kopf der Bewegung und verkraftet nicht, wenn sich die Szene ohne sie organisiert.

Diesem Anflug von Größenwahn ist wohl geschuldet, dass sie sich Düsseldorf als Aktionsort ausgeguckt haben: Hier treffen sich wöchentlich mehrere Hundert bis hin zuletzt mehrere Tausend Maßnahmen-Gegner:innen und Corona-Leugner:innen. In zwei Reden hat Mark M. versucht, sich an die Spitze dieses Protests zu setzen, ist mit seinen Ballermann-artigen Reden aber nicht durchsetzungsfähig gewesen. Seine dritte, von ihm groß angekündigte Rede in Düsseldorf, fand aufgrund mangelnder Relevanz in Düsseldorf schlichtweg einfach nicht statt. Drauf hin verkündete M., sich wieder mehr auf Essen zu konzentrieren und plant derzeit für Januar die erste Versammlung.

Weitere Corona-Gruppen

Neben „Unbesiegbar“ existieren noch weitere Gruppen im Essener Kontext. Ob „Querdenken“ oder „Studenten“, ob man sich ohne Masken zum gemeinsamen Einkaufen verabreden oder treffen möchte, oder in Gruppen organisieren, die zu „Spaziergängen“ aufrufen: Die Essener Szene gestaltet sich vergleichsweise divers.

„Die Basis“

An die Spitze des momentan wöchentlich auf Essens Straßen stattfindenden Protest hat sich die Partei „Die Basis“ gesetzt. Sie gilt als parlamentarischer Arm der „Querdenken“-Bewegung. Zur vorletzten Versammlung mit Aufzug am 27.12.2021 auf dem Weberplatz konnten ca. 350 Personen mobilisiert werden. Knappe 150 Personen mehr als zur ersten Versammlung, die auf dem Vorplatz der Gruga begann. Zur Versammlung am 03.01.2022 erschienen ca. 500 Personen.

Dass sich eine Partei als Organisatorin des Protests in Verantwortung setzt, schmeckt nicht allen. Ein nicht zu verachtender Teil der Bewegung kritisiert, dass der „Spaziergang“ offiziell durch den Versammlungsleiter gegenüber der Versammlungsbehörde angemeldet wird. Das sei kein richtiger Widerstand, da „das System“ somit bestätigt würde. Zudem seien Parteien ohnehin allesamt korrupt und würden das „Volk“ verraten.

„Alternative für Deutschland“

Wo es braun und nach Staatszersetzung riecht, ist natürlich auch die AfD nicht weit. Die Ratsfrau Stefanie Brecklinghaus von der AfD hat bereits mehrfach zur Teilnahme an den „Spaziergängen“ in Essen aufgerufen. Seit kurzem ruft selbst die Essener AfD zur Teilnahme auf.

Corona Proteste: Gefährliche Mischung

Das Jahr beginnt, wie das letzte endet – mit einer gefährlichen Mischung aus Verschwörungsmythen, Umsturzfantasien und Anknüpfungspunkten in die Extreme Rechte. Herausgebildet und gefestigt hat sich ein weinerlicher Wellness-Widerstand, wo man sich jammernd, aber heroisch auflehnt gegen eine eingebildete „grundlose Unterdrückung“. Die Gemengelage aus selbsternannten „Querdenker:innen“, „Maßnahmengegner:innen“ und Corona-Leugner:innen, kann sich auch in NRW zu ähnlichen Situationen zuspitzen, wie bei den gewaltbereiten Protesten im Osten Deutschlands.

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