Redebeitrag: Myr i svoboda – Frieden und Freiheit

Redebeitrag: Myr i svoboda – Frieden und Freiheit

Wir dokumentieren hier die Rede “Myr i svoboda – Frieden und Freiheit”, die wir anlässlich der Friedensmahnwache “Krieg sofort beenden! Waffenstillstand jetzt!” am 14.03.2022 auf dem Kennedyplatz in Essen bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Essener Allianz für Weltoffenheit, gehalten haben:

Liebe Essenerinnen und Essener,

„in einer anderen Welt aufgewacht“, „Zeitenwende“, „Ende des Europas wie wir es kannten“.
Die Flut der Gefühle, die Bilder, Reden, Nachrichten, Tweets, Radio- und Fernsehberichte, die seit dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine über uns hereinbrechen, haben uns alle berührt und verändert. Durch den unmenschlichen, unzivilisierten Angriffskrieg, der die Zivilbevölkerung in voller Härte trifft, haben viele unter uns Familie, Freunde oder Kollegen, die in Gefahr geraten sind, um ihre Lieben fürchten oder sie betrauern müssen.
Die Ukraine durchlebt eine Katastrophe ungewissen Ausgangs, und welche Folgen dieser Krieg in seiner Gesamtheit auch über die Grenzen des Landes hinaus haben wird, bleibt unwägbar.

Unser Glaube an ein Europa in Frieden nach dem Balkankrieg ist erschüttert. Mittelfristig ist er uns genommen. Unser Los scheint es, schockiert zu sein, traurig, betroffen und wütend zu sein. Heute Abend ist mein Vater hier unter uns, 74 Jahre alt. Seine Wehrdienstzeit fiel mitten hinein in den s.g. kalten Krieg. Ich habe lebhafte Erinnerungen daran, wie er meinen Geschwistern und mir von Wachdiensten erzählte, davon, wie phasenweise unvermittelt und wochenlang erhöhte Alarmbereitschaft ausgerufen wurde, und wie er sich darauf gefasst machen musste, dass „Es“ nun losgehen könnte. Dieses „Es“, was ihm Gott sei Dank nie konkret einholte, ist nun seit bereits 18 Tagen bitterste Realität für die ukrainische Soldaten, Eingezogenen und Freiwilligen, für die Gesamtheit der ukrainischen Bevölkerung. Dieses „Es“ wollte er seinen drei Söhnen, wollte er kommenden Generationen, wollte er friedliebenden Menschen jeder Herkunft, immer erspart wissen.

Und heute stehe ich da. Zuhause habe ich einen 10-jährigen Jungen, der mir zu wisperte: „Papa, ich will hier keinen Krieg“, und damit vielmehr Fragen stellte, als dieser Satz vermuten lassen könnte. Ich stehe vor einem jungen Menschen, den ich weder vor den Weltnachrichten schützen kann noch ihn davor abschotten möchte. Was ich ihm aber glaubhaft vermitteln und vorleben möchte ist, dass wir, seine Mutter, er und ich als Familie, aber auch die Gesellschaft unseres Landes und die Europas, alles in unseren Kräften stehende zu tun haben, tun müssen, um den Ukrainern und allen ebenso Betroffenen, den Flüchtlingen aus der Ukraine, den im Zuge des Krieges nun ebenfalls sich bedroht sehenden Anrainern, und den Anti-Kriegs-Demonstranten in Russland unsere Hilfe und Solidarität nicht nur anbieten, nicht nur die Hand reichen, sondern mit Tat und Kraft zur Seite stehen. Was wir tun müssen, um die Basis für Dialog, für Frieden nicht nur wieder zu schaffen, sondern sie auch zu wahren. Dazu gehört auch über den Augenblick dieser Krise hinauszudenken. Vor Ort und weltweit benötigen die Menschen alle Anstrengungen für ein Ende von Gewalt, hin zu einer Außenpolitik der Diplomatie, ein vorausschauendes und kommende Entwicklungen berücksichtigendes, maßvolles Handeln in Bezug auf Rüstungspolitik, eine Politik, die auf De-Eskalation stellt. Über den Weg hin zu alledem existieren in unserer Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen.

Ich werde hier nicht über den Weg hin zu Russlands Angriff reden, nicht über das, was Deutschland, was die Bundesregierungen hätte unternehmen oder lassen sein sollen.
Ich möchte darüber sprechen, was Deutschlands Aufgabe nun ist: Hilfe und Humanität. Dass wir der ukrainischen Bevölkerung helfen können und müssen. Dass wir den Schutzsuchenden unter die Arme greifen, und sie versorgen müssen. Und dass wir uns gegenüber 2015/16, als wir letztmalig den Beginn einer Flüchtlingsbewegung in Europa registrierten und auffingen, nicht nur in der Logistik und Verwaltung verbessert haben dürfen, sondern gerade in unserem aufrichtigen Willkommenheißen. Heute wie damals kamen hilfesuchende Individuen mit einer Leidensgeschichte. Und unser Land hatte und hat die Kraft und Ressourcen, diesen Menschen zu helfen, damals wie heute.

Das fing bei uns im Kleinen an, mit dem Vorschlag meines Sohnes, gemeinsam an die UNICEF zu spenden. Im Großen werden hier qualifizierte Aufnahmekapazitäten, Betreuung, psychosoziale Unterstützung und Hilfe bei der Eingewöhnung benötigt für die Zeit, die es nun mal dauern wird. Jetzt gilt es zu überlegen, wie wir all das und was mehr noch leisten können, und mit denen zusammenzustehen, die ebenso wie wir ein Ende von Krieg, Leid und Unfreiheit herbeisehnen, verlangen und erstreiten wollen, so wie die vielen, vielen privaten Helferinnen und Helfer in Deutschland und Gesamteuropas, und wie wir als Stadtgesellschaft hier am heutigen Abend.

Auch gilt, dass wir verständig bleiben müssen, und diszipliniert. Wir dürfen keine Blitzableiter für unsere Ängste oder Wut suchen. Es ist ungerecht, wenn Russen in Deutschland und Russlanddeutschen nun jene Ablehnung entgegenschlägt, die Putin und Lawrow gebührt. Es ist falsch, wenn nun russische Kultureinrichtungen und Geschäfte bedroht und angegriffen werden. Es ist ungerecht und falsch, nun die russische Bevölkerung in Gänze zu verurteilen, und als kriegsbefürwortend über einen Kamm zu scheren, wenn doch trotz der Moskauer Junta mit ihren Staatsmedien, die das Bild prägen und dominieren, Russinnen und Russen Tag für Tag Repressionen ins Auge sehend auf die Straßen gehen, um gegen den Krieg zu demonstrieren, und den tausendfachen Tod ihrer russischen und ukrainischen Brüder und Schwestern zu verhindern suchen.

Mehr als nur ungerecht, ein Verbrechen, sind die Pushbacks an Bahnhöfen und in Grenzstädten, die wir verzeichnen. Wer nicht als Ukrainer gelesen wird, wem Fluchtgründe zugeschrieben werden, die nichts mit dem regionalen Krieg, sondern Krisen an anderen Orten der Welt zu tun haben mögen, darf nicht alleingelassen bleiben, darf nicht das Retten der eigenen Haut und der Leben seiner Lieben vor einem Krieg, dessen Vorhandensein und Bedrohungslage niemand anzweifeln kann, aktiv durch Zurückweisung verwehrt bleiben. Eine Kategorisierung bliebe eine Schande für ein aufgeklärt-humanistisches Europa. Menschenrechte sind universell, sie gelten für alle Menschen gleichermaßen unabhängig von irgendwelchen Merkmalen, und doch erfroren noch vor kurzem Menschen in polnischen Wäldern. So sehr wir der ukrainischen Bevölkerung nun akut helfen und sie in einen Fokus stellen müssen, so sehr dürfen wir nicht jene Hilfesuchende vergessen, die bereits seit Monaten und Jahren an Europas Außen- und Binnengrenzen leiden.

Wir fordern die Bundesregierung und die EU dazu auf, auch in dieser unübersichtlichen, höchstkomplizierten Zeit Maß, Mitte und Herz zu beweisen, sich zwar nicht in eine bewusste Eskalation nur der Eskalation wegen zu begeben, aber auch nicht vor Sanktionen und Einschränkungen zurückzuschrecken, die die Wirkmacht haben Putin auf den Boden der Tatsachen und des Völkerrechts zurückzuholen, denn auch wir als Bevölkerung sind bereit unseren notwendigen Teil beizusteuern, um eine Beendigung des Leidens und Blutvergießens näherrücken zu lassen. Wir fordern, Helferinnen und Helfern, sowie allen hilfesuchenden Menschen die wir empfangen, unbürokratisch zu helfen, und in einer Zeit, in der -auch bereits vor diesem Krieg-, ganz neue Investitionssummen ausgehoben werden konnten, auch die nachhaltige Friedens-, Flüchtlings- und Entwicklungsarbeit in stärkerem Maße nachhaltig zu finanzieren.
Wir müssen darauf hinarbeiten, dass der Frieden in die Ukraine zurückkehrt, und dass aus einem neugefunden Glauben an dauerhaften Frieden Realität werden kann, und Realität wird.

Wir wünschen den Ukrainern myr i svoboda – Frieden und Freiheit.
Vielen Dank.

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