Redebeitrag: Ein Jahr nach Hanau

Redebeitrag: Ein Jahr nach Hanau

Im Folgenden dokumentieren wir die von uns auf der Veranstaltung Ein Jahr nach Hanau gehaltenen Bündnisrede im Wortlaut:

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-jähriger Hanauer insgesamt zehn Menschen. In und vor zwei Shisha-Bars, einem Kiosk und einer Bar erschoss er neun Bürger*innen von Hanau mit Migrationshintergrund. An Treffpunkten also, wie es sie nicht nur in Hanau, sondern in ganz Hessen, ja – der gesamten Bundesrepublik gibt. Die Orte waren keine Zufallstreffer, sondern Täter ganz bewusst ausgesucht. Besonders Shisha-Bars sind oftmals Treffpunkte migrantischer Communities, ja, eine Art Schutzraum für ebendiese. Dieses Gefühl von Schutz und Sicherheit hat der Täter den Menschen in Hanau und darüber hinaus genommen.

Ca. 400 haben sich zur Gedenkversammlung zusammengefunden.

Auf seiner Internetseite veröffentlichte der 43-jährige ein Bekennerschreiben, das seinen ganzen Verfolgungswahn und Rassismus offenlegt. Er wähnte sich von Geheimdiensten verfolgt und wollte ganze „Völker komplett vernichten“. Doch wir wollen nicht den Täter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Das wäre nicht nur pietätlos, sondern würde auf einen fatalen Irrtum hinauslaufen. Den Irrtum nämlich, dass es sich um einen Einzeltäter, eine Art “einsamen Wolf” gehandelt habe. Und diese Annahme liegt ja zunächst auch nahe, denn immerhin hat er die Tat allein begangen.  Außerdem ist diese Sichtweise auf den Täter unglaublich bequem, denn so muss sich eine Gesellschaft nicht fragen, welchen Teil sie dazu beigetragen hat.

Die Schuldzuweisung ist klar und das Urteil ist gefällt: ein psychisch kranker Mann konnte die eigene Realität nicht mehr von der eigentlichen unterscheiden, hat sich – obwohl psychisch krank – ganz legal eine Waffe besorgt und ist Amok gelaufen.

Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist der Irrtum, den wir so in keinster Weise stehen lassen werden. Wir wollen wissen: wo hat er denn seine Motive, also seine geistige Munition für diese Tat, hergehabt? Ich habe eingangs zwei Schlagworte erwähnt: Verfolgungswahn und Rassismus. Wir, die wir hier versammelt sind, wissen, dass Rassismus nicht im stillen Kämmerlein entsteht. Ganz im Gegenteil, er begegnet uns überall! Ob am Arbeitsplatz oder im Sportverein, am Stammtisch oder bei der Familienfeier – er ist potenziell an jeder Ecke zu finden. Haben Gesellschaft und Politik das ein Jahr nach Hanau endlich begriffen?

Immerhin: Die Bundesregierung hat im Dezember 89 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Rassismus beschlossen. Dafür soll bis 2024 mehr als eine Milliarde Euro investiert werden. Das ist schön und gut. Aber, was bringt das alles, wenn doch die eigentliche Erkenntnis noch nicht gereift ist? Nämlich die, dass Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt und auch nur von dort aus bekämpft werden kann.

Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen hat ein Jahr nach Hanau ein ernüchterndes Fazit gezogen. Marianne Ballé Moudoumbou von der Pan African Women’s Empowerment and Liberation Organisation hat es auf den Punkt gebracht: “In der Bundesrepublik leiden wir unter einem selektiven Gedächtnis, was Leid von gesamten Menschengruppen anbelangt.” Ich möchte provokant hinzufügen: wir leiden unter selektiver Ignoranz, was das Leid von bestimmten Menschengruppen anbelangt! Wie wenig Bewusstsein herrscht doch in den deutschen Amtsstuben für die Probleme, die NUR Menschen mit Migrationshintergrund haben. Warum haben wir noch immer kein Antidiskriminierungsgesetz mit mehr Klagemöglichkeiten für Betroffene und ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen? Ein Ministerium, das sich federführend um die Gleichstellung von Menschen mit Migrationsgeschichte, um Antidiskriminierung und eine menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik kümmert? Ganz einfach: Weil es die Belange von sog. “Minderheiten” sind. Und solange PoC den Rang von Menschen zweiter und dritter Klasse haben, von Behörden und Mitmenschen gegängelt und benachteiligt werden, so lange es Menschen gibt, die die AfD wählen – ja, so lange müssen und werden wir dem Rassismus den Kampf ansagen!

Ich möchte zum Ende kommen, aber noch kurz auf den anderen Beweggrund des Täters eingehen: Verfolgungswahn. Dabei handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die bedenkliche Überschneidungen mit einem Phänomen hat, das uns in diesen Tage ganz besonders vertraut ist: Verschwörungserzählungen. Die gibt es nicht erst seit den Corona-Maßnahmen, aber sie treten seitdem so offensichtlich zutage, dass niemand mehr die Augen davor verschließen kann. Und ob ihre Anhänger*innen nun Angela Merkel, Bill Gates oder, wie immer in der Geschichte des weißen Menschen: “die Juden” für die Pandemie verantwortlich machen, so eint sie doch zumindest das Eine: sie haben keine Berührungsängste mit Rassisten, sie sind brandgefährlich und sie schrecken nicht davor zurück, Ihre menschenverachtenden Ideen mit Gewalt durchzusetzen! Lasst uns deswegen weiterhin zusammenhalten und diesem Wahnsinn die Stirn bieten. Nur so können wir dazu beitragen, dass sich Hanau nicht wiederholt!

Kaloyan, Fatih, Sedat, Vili Viorel, Gökhan, Mercedes, Ferhat, Hamza und Said Nesar.

Kein Vergeben, kein Vergessen!

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