Die konstruierte Realität der Funke Mediengruppe

Die konstruierte Realität der Funke Mediengruppe

Medien formen unser Bild der Realität: Die Art der Berichterstattung hat einen Einfluss darauf, welche Meinung wir uns zu bestimmten Sachverhalten bilden, welche Sprache wir verwenden und welche Partei wir wählen.

Die Funke Mediengruppe hat dabei offenbar eine sehr genaue Vorstellung, wie die Realität im Ruhrgebiet aussieht. Zur Funke Mediengruppe gehören nicht nur WAZ und NRZ (deren Inhalte sich oft gleichen), sie hält auch Mehrheitsanteile an verschiedenen privaten Radiosendern wie Radio Essen und Radio Bochum. Lokale Alternativen gibt es in der Regel keine, sprich: Funke nimmt vielerorts eine Monopolstellung ein und hat einen großen Einfluss darauf, über welche Themen wie im Ruhrgebiet gedacht und gesprochen wird.

Dieser Einfluss wurde und wird immer wieder zum Nachteil marginalisierter Stimmen missbraucht, denn in Vergangenheit sind gerade WAZ und NRZ schon des Öfteren durch Rechtspopulismus und Rassismus schürende Berichterstattung aufgefallen. Aktuellstes Beispiel ist dabei das Aufeinandertreffen Angehöriger der syrischen und libanesischen Community am Abend des 16. Juni 2023 in der Essener Innenstadt. Dies gab Anlass für eine Vielzahl undifferenzierter Artikel. Im NRZ-Artikel „Erbitterter Machtkampf der Clans“ vom 20.6. wird ordentlich Angst geschürt: Die aktuelle Lage gleiche einem Pulverfass, das jederzeit explodieren könne. Zahlreiche Kriegsmetaphern werden bedient („Männer (…), die in mehrfacher Kompaniestärke (…) in Richtung Innenstadt marschieren“) und undifferenziert über die „syrischen Essener“ als „archaisch charakterisierter Menschenschlag mit patriarchalisch und streng hierarchisch strukturierten Großfamilien“ ohne Angst vor dem Tod berichtet. Eine Grafik zeigt, wie stark seit 2010 die syrische Community in Essen wächst, damit auch wirklich jede*r versteht: Die hohe Zahl von zugewanderten Syrer*innen ist ein Problem.

Statt einordnende Stimmen von Expert*innen oder gar von Betroffenen – was man erwarten dürfte, da die Abbildung verschiedener Perspektiven und Einordnung von Sachverhalten zum journalistischen Handwerk gehören – kommen oft populistisch formulierte, vorurteilsschwangere Stimmen aus den Sozialen Medien zu Wort. So ist beispielsweise das Interview des Leiters der Essener NRZ-Lokalredaktion, Wolfgang Kintscher, mit Oberbürgermeister Thomas Kufen („Es gab in Essen keine Schlägerei“, 21.6.) schon beinahe Arbeitsverweigerung, wenn Kintscher statt differenzierter Fragen zu einer komplexen Herausforderung nur immer wieder sein Gegenüber mit Facebookkommentaren und gefühlten Fakten konfrontiert. Tenor ist: Es muss härter durchgegriffen werden. Dass Kintscher in diesem Interview bemerkt, die Debatte darüber finde in „aufgeheizter Stimmung“ statt, ist dabei blanker Hohn, weil die Berichterstattung von WAZ und NRZ diese aufgeheizte Stimmung durch ihre geistige Brandstiftung mit verursacht. Auch in diesem Interview omnipräsent: der Begriff der sogenannten „Clan-Kriminalität“, den vor allem Funke-Medien seit Jahren verwenden, ohne zu reflektieren, dass dieser Begriff hochproblematisch und rassistisch ist. Der Begriff umschreibt Angehörige „ethnisch abgeschotteter Subkulturen“ in verwandtschaftlichen Beziehungen, oft einhergehend u.a. mit mangelnder Integrationsbereitschaft und patriarchal-hierarchisch geprägten Familienstrukturen. Dieser Versuch einer Definition der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages ist allein schon problematisch. Dazu kommt, dass solche Zuschreibungen reale Konsequenzen haben, indem beispielsweise Personen mit einem bestimmten Nachnamen diskriminiert werden.

Doch auch andere Beispiele zeigen den kritischen Blick von WAZ und NRZ auf eine diverse Gesellschaft:

2021: Silvesternacht in Essen

In der Nacht vom 31. Dezember 2020 auf den 1. Januar 2021 kam es im Stadtteil Altenessen zu mehreren Fällen von Vandalismus: Bis zu 50 Personen demolierten Haltestellen, Werbetafeln und Mülleimer, in Südostessen kam es zu ähnlichen Vorfällen. Für die WAZ („Warum es im Essener Norden so nicht weiter gehen darf“, 2.1.21) standen die Täter*innen schnell fest: Ein „desintegrierter Mob“ habe die Taten verübt und habe bald die Macht („Hegemonie“) im Essener Norden erlangt. „Desintegriert“ macht deutlich, dass es sich nicht um deutsche Bürger*innen handelt, und in den Köpfen der Leser*innen formt sich schnell ein Bild ausländischer Randalierer*innen. Im späteren Verlauf des Artikels wird dementsprechend konkretisiert: „arabischstämmige Jungmänner“ vielfach aus „Kulturen der Gewalt“ hätten die Taten verübt. Auf der einen Seite haben wir also diese angeblich gewaltsamen Kulturen (allein diese Zuschreibung ist eindeutig rassistisch), auf der anderen Seite sind „die gesetzestreuen und immer noch mehrheitlich heimatverbundenen Altenessener“ wütend, erschrocken, zum Teil hoffnungslos und „verlieren das Vertrauen in Polizei und Stadt“. In der Artikelüberschrift wird die Lage dramatisiert, denn statt die zwei betroffenen Stadtteile zu nennen, ist nun der gesamte Essener Norden – mal wieder – Problemregion.

2020: Unzufriedenheit mit der Essener Innenstadt

Im Juni 2020 führte die WAZ auf ihrer Facebook-Seite eine Umfrage zur Zufriedenheit mit der Essener Innenstadt durch, „weit mehr als 100“ Personen hätten teilgenommen. Neben zu hohen Parkgebühren wurde auch die Präsenz von migrantischen Männergruppen kritisiert. Verschiedene Bürger*innen gaben ihr Unbehagen zu Protokoll: „Horden junger Männer“ ab dem Hauptbahnhof, „Drogendealer, das fremdländische, männliche Publikum“, „der hohe Ausländeranteil führt dazu, dass man sich nicht mehr wie in einer deutschen Stadt fühlt“ („Darum meiden Essener die City: Parken, Euroshops, Migranten“, 28.6.20). Aussagen wie diese werden im Artikel weder kontextualisiert, eingeordnet noch behauptete Fakten überprüft. Nachdem daraufhin Rassismus-Vorwürfe laut wurden, unter anderem durch die Online-Petition „Gegen rassistische Hetze der Funke Medien Gruppe“ an den Presserat, reagierte der Autor wenige Tage später in einem weiteren Artikel auf die öffentliche Kritik: „Dieser [Rassismus-]Vorwurf ist nicht nur haltlos, diffamierend und wird von der Redaktion entschieden zurückgewiesen – er spiegelt auch eine aus den Fugen geratene Diskussionskultur wieder [sic], die in Essen zuletzt auch in unsäglichen Rassismusvorwürfen gegen die Polizei deutlich zu Tage getreten ist.“ Vorsichtshalber lässt man zur Untermauerung noch eine Gruppe von jungen Herren zu Wort kommen, die die Vorbehalte gegen Migrant*innen nicht nachvollziehen können. Der Artikel endet dann betont versöhnlich: „Der Aufenthalt in der Innenstadt in Gruppen – so demonstrativ es dabei zugehen mag – ist weder verboten noch kriminell. Dass Veränderungen Unsicherheiten schaffen, ist indes ebenso wahr und verständlich. Zu hoffen bleibt, dass Stadt und Gesellschaft einen Weg finden, wie sich alle Essener wieder in ihrer Innenstadt wohlfühlen.“ („Was ist dran an der harten Kritik?”, 2.7.20)

2016: Sprengstoff-Anschlag auf die Essener Sikh-Gemeinde

Am 16. April 2016 verübten drei Jugendliche aus dem Ruhrgebiet einen Sprengstoffanschlag auf das Gebetshaus der Sikh-Gemeinde Gurdwara Nanaksar in Essen. Dabei wurden drei Menschen verletzt: ein Priester der Gemeinde schwer, zwei weitere Personen leicht. Einer der Täter stellte sich selbst der Polizei und nannte einen Mittäter, alle drei standen in Verbindung zur salafistischen Szene. Im März 2017 wurden die drei damals 17jährigen zu Jugendstrafen zwischen sechs und sieben Jahren verurteilt, Motiv laut des Essener Landgerichts: Hass auf andere Religionen.

Diese Tat ist ohne Frage furchtbar. Das fanden auch WAZ und NRZ und berichteten über Monate hinweg intensiv über jede neue Information in dem Fall. Ob über 50 Artikel in einem Zeitraum von einem Jahr angemessen sind, ist diskussionswürdig – zumal, wenn man sich die Sprache in den Artikeln anschaut. Immer wieder wurde in bester BILD-Manier von den „Tempelbombern“ (WAZ, 6.10.2016) berichtet. In kaum einem der oft seitenfüllenden Artikel fehlten die Vornamen der drei Täter (Mohammed, Yusuf und Tolga; auf eine einheitliche Schreibweise der drei Namen wartet man vergeblich) – der Hinweis, dass alle drei in Deutschland aufgewachsen sind, dagegen häufiger. Die weitere Berichterstattung ließ kaum ein Salafismus-Klischee aus: Die Täter seien bereits in Vergangenheit als Schulverweigerer und durch gewalttätige, antisemitische und frauenfeindliche Handlungen sowie islamistische Äußerungen aufgefallen. Einer wird als „unberechenbar und blutgierig“ beschrieben, er feierte bereits als Minderjähriger seine „Heirat mit Burka-Mädchen Serap“. Die Kopfbedeckung der jungen Frau beschäftigt auch einen anderen Autor im Prozessverlauf, als diese als Zeugin auftritt: „Viele der Prozessbeteiligten erwarteten sie mit Vollverschleierung. Doch diesem Klischee entsprach sie nicht. Allerdings betrat sie das Gericht in einem „Tschador“, einer Verschleierung, die das Gesicht frei lässt. Ganz fern der islamistischen Szene scheint sie nicht zu sein“ (WAZ, „Ein Syrien-Rückkehrer belastet die Essener Tempelbomber“, 31.1.17). Je mehr Körperpartien verschleiert, desto radikaler, scheint die höchst fragwürdige Hypothese des Autors. Offen bleibt, ob er vorher eine Umfrage unter den Prozessbeteiligten zum äußeren Erscheinungsbild der Zeugin durchgeführt hatte.

Zwischendurch findet auch pauschales Misstrauen gegenüber dem muslimischen Glauben Platz in der Berichterstattung: In einem WAZ-Kommentar vom 30. April 2016 („Moscheen besser kontrollieren“) werden strengere Kontrollen von Moscheen gefordert: „Aber die Vermutung keimt auf, dass einige Problem-Moscheen wie die Assalam-Moschee den Nährboden bilden, auf dem sich Wut und Hass auf monströse Weise auswachsen. Eine wirksame Kontrolle der Moscheen ist notwendig. Wer nichts Schlechtes im Schilde führt, hat auch nichts zu verbergen.“ Unklar bleibt, welche Moscheen nach Meinung des Autors jetzt wirklich kontrolliert werden sollen – „Problem-Moscheen“, Moscheen im Essener Norden oder doch vorsichtshalber alle (denn die meisten sollten ja sowieso nichts zu verbergen haben)? Auch hier wird anti-muslimischer Rassismus zumindest angedeutet und das Recht auf Datenschutz, das nur im ernsten Verdachtsfall ausgesetzt werden sollte, negiert.

Fazit:

WAZ und NRZ sind keine populistischen Presseorgane. Belege für rechtskritische Berichterstattung in WAZ und NRZ finden sich einige, beispielsweise die kritische Berichterstattung rund um Ratsmitglied Guido Reil, der 2016 von der SPD zur AfD wechselte. Trotzdem gibt es bereits seit Jahren zahlreiche Beispiele in beiden Medien für Artikel, die man mindestens kritisch hinterfragen sollte – sei es beispielsweise aufgrund einseitiger Berichterstattung, dem fragwürdigen Aufbau eines Artikels oder kritischen Belegen wie nicht-repräsentative Umfragen. Es wird immer wieder – mal mehr mal weniger subtil – gehetzt gegen „fremd“ und „ausländisch“ wahrgenommene Gruppen: Geflüchtete oder Personen mit Zuwanderungsgeschichte, insbesondere muslimische Personen. Diese werden als „desintegriert“ beschrieben, durch Vorverurteilungen wird ihnen die Chance auf Integration genommen. Die als Mehrheitsgesellschaft interpretierten Leser*innen sollen sich als gesetzestreue Bürger*innen identifizieren, die sich aufgrund der geschilderten Taten nicht mehr sicher fühlen können in ihrer Heimatstadt. Nur selten sind Formulierungen klar rassistisch, oft wird die Abwertung stattdessen angedeutet und damit rassistische Vorurteile in den Köpfen der Leser*innen subtil genährt statt aufgelöst.

Offenbar hat die Redaktion der Funke Mediengruppe ein sehr weiß-homogenes Bild ihrer Leser*innenschaft, dabei leben gerade im Ruhrgebiet viele BIPoCs (Black, Indigenous, People of Color) sowie Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Auch sie haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung und Selbstentfaltung, werden durch Artikel wie die geschilderten aber oft pauschal als Täter*innen dargestellt. Dies lässt auch Rückschlüsse auf die Redaktionen und Journalist*innen zu, die offenbar wenig divers zusammengesetzt sind und sich selten bemühen, auch marginalisierten Stimmen einen Raum zu geben. Leser*innenkritik ist also zum einen wichtig, weil es generell kein wirkliches Kontrollorgan für Medien in Deutschland gibt, und zum anderen, weil die Funke-Medien im Ruhrgebiet eine Monopolstellung einnehmen und deshalb besondere Vorsicht herrschen sollte, da es wenige alternative Informationsquellen gibt.

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