Rede zum 9. November

Rede zum 9. November

Wir dokumentieren hier mit freundlicher Genehmigung die Rede von Sven Seeburg, die er anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 9. November 2019 gehalten hat. Vielen Dank!

Liebe Freunde,

ich heiße Sven Seeburg, bin als Schauspieler am hiesigen Grillo-Theater beschäftigt und bedanke mich im Voraus für Eure Aufmerksamkeit.

Ja, es drängt mich, auf dieser, unserer gemeinsamen Gedenkveranstaltung, zu sprechen,
obwohl – ich gestehe es – dies kein leichtes Unterfangen für mich ist!

Der 9. November ist und bleibt in unserer deutschen Geschichte ein Tag äußerst widersprüchlicher Bedeutsamkeit.
Und dabei sind diese sehr unterschiedlichen Aspekte des Gedenkens und Erinnerns untrennbar miteinander verbunden!

Bei Heinrich Heine findet sich das großartige Konstrukt:

Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen!
Was dieser gewollt hat müssen wir erforschen,
wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.

So richtig diese Erkenntnis im allgemeinen ist, so bedeutsam ist sie im Hinblick auf eben die Ereignisse, die sich mit dem Datum 9. November verbinden.

Die einen feiern gerade in diesem Jahr, befeuert durch Medien und Mainstream, den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren als Synonym für die Beendigung der Zweistaatlichkeit Deutschlands und charakterisieren dieses Ereignis mit der uferlosen Wiederholung der damals freudvoll gebrauchten Metapher: Wahnsinn!

Anderen ist die Erinnerung an die Novemberrevolution 1918 sowie in diesem Jahr die 100. Wiederkehr des Gründungsdatums der „Weimarer Republik“ sowie ihrer Verfassung wichtig.
Ja, alle mit diesem Datum verbundenen geschichtlichen Prozesse, Ereignisse und Ergebnisse sind gleichermaßen bedeutungsschwer!
Doch dabei scheint mir immer wichtiger zu werden, dass wir alle – Politik und Staat ebenso wie Medien und Zivilgesellschaft, jeder Einzelne von uns – endlich lernen, Einseitigkeit und propagandaorientierte Betrachtungsweisen zu überwinden, Hintergründe und Zusammenhänge erkennend, vorurteilsfrei unser zukünftiges Zusammenleben mitzugestalten!

Zum Beispiel halte ich es für ein sehr einseitiges Fehlurteil, wenn die Novemberrevolution 1918 zuweilen noch als gescheiterte historische Chance betrachtet wird, die letztendlich den deutschen Faschismus und seinen Weg in die schlimmste Katastrophe der Menschheit ermöglicht habe!

Im Gegenteil hat diese Revolution doch wohl die autoritären Herrschaftsstrukturen der Monarchie zerschlagen und einen deutschen demokratischen Staat hervorgebracht, mit einer fortschrittlichen demokratischen Verfassung!
Stichwort: Frauenwahlrecht, um nur dieses eine Bespiel zu nennen!

Um deutlich zu machen, was ich meine, zitiere ich den renommierten Historiker Robert Gerwarth zur Novemberrevolution:

Wer also historische Fakten und Prozesse
nur vom Ende her betrachtet, ignoriert
wie sehr die Zukunft damals offen war!

Gleiches lässt sich über all das sagen, was unter dem Begriff DDR verkürzt mit den Schlagworten dargestellt wird:

Teilung Deutschland – einseitiges Ergebnis
allein sowjetischer Politik
Mauer – Stacheldraht – Stasi!

Waren aber nicht beide deutsche Staaten im Ergebnis des verbrecherischen deutschen Angriffskrieges, der totalen Niederlage des deutschen Faschismus und des unmittelbar danach beginnenden Kalten Krieges Ost-West entstanden?
Nein, die DDR war kein Wunschkind, das ist richtig!
Wohl aber eine versuchte mögliche Alternative nach den Verbrechen der Nazis!
Ihre Hymne – „Auferstanden aus Ruinen…..“

Text: Joh. R. Becher
Melodie: Hans Eisler
zwei durch die Nazis vormals aus dem Land getriebene Künstler

war hoffnungsvolles Programm für Millionen Menschen!

Ja, auch im kleineren, ärmeren deutschen Staat

von dessen Bruttosozialprodukt zumindest
offiziell bis Mitte der 50er Jahre 22% als
Reparationsleistungen an die Sowjetunion
geflossen sind

haben Millionen Menschen an eine glückliche Zukunft geglaubt, gearbeitet, geliebt und gelebt!
Bis dann Ende der 80er Jahre der moralische Impetus verbraucht war!
Auch das ist richtig!
Viel wäre dazu noch zu sagen, um die ganze Dialektik gelebten Lebens aufzuhellen!

Aber, lasst mich – auf den 09. November unmittelbar zurückkommend – eine dritte Facette dieses Datums benennen, die mir ganz besonders wichtig ist.

Vor 81 Jahren wurden im gesamten Land die Synagogen niedergebrannt und jüdische Geschäfte geplündert.
In dieser Reichspogromnacht

Ich benutze bewusst nicht den zynisch durch die Nazis selbst
geprägten Begriff Reichskristallnacht

wurden tausende jüdische Mitbürger vor aller Augen verhaftet, geschlagen, ermordet!
Der Hitlerputsch 1923 in München – auch an einem 09. November – war ein frühes Präludium!
Jetzt – 1938 – trat dieses rassistische Mordregime offen zu Tage!
Und viele schauten weg!
Billigten gar lautstark oder nur stillschweigend diese Exzesse!

Die Nazis waren dort und damals mit ihrer faschistischen Ideologie in der Mitte der Gesellschaft beheimatet und nicht von einem anderen Stern über das unschuldige Volk herniedergekommen!

Wo es hingeführt hat, dass „nur“ völkisch – deutsch – national begonnen hatte, wissen wir!
6000000 aus niederen, antisemitisch, rassistischen Gründen ermordete Juden in ganz Europa!
Ein Genozid sondergleichen!
Bei diesem industriemäßig betriebenen Massenmord war der Tod ein Meister aus Deutschland!

Wir verneigen uns in tiefer Trauer und Scham und gedenken – gerade heute am 09. November – aller Opfer, jener die Widerstand geleistet haben und jener, die ermordet worden sind „nur“ wegen ihrer nationalen Identität, ihrer sogenannten Rasse, ihres Glaubens, ihrer Überzeugung, ihres Andersseins – Juden, Sinti, Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Intellektuelle, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, psychisch kranke Menschen……!

Und gerade heute – am 09. November – darf unser Gedenken aber nicht nur den Opfern einer vermeintlich überwundenen Epoche gelten.
Rechtsterroristisches, rassistisches, antisemitisches, ausländerfeindliches Gedankengut werden lautstark schon wieder – sollte ich nicht besser sagen – immer noch geäußert!
In der Mitte der Gesellschaft!
Daraus gespeiste Mord – und Totschlagsverbrechen müssen uns endlich wachrütteln!
Und wenn Politiker zum Beispiel den Mordanschlag am Yom Kippur Fest auf die Synagoge in Halle als unvorstellbar bezeichnet haben, muss ich, müssen wir uns alle fragen: Wirklich?!
Unvorstellbar?!
Sind denn nicht allein seit 2018 80 Menschen auf ähnliche Weise und aus gleichen Gründen ermordet worden?
Weist die traurige Bilanz des Rechtsterrorismus in all seinen Spielarten seit 1990 nicht 190 Ermordete in Deutschland aus?

Das sind keine Anfänge mehr, deren man sich erwehren muss!
Betroffenheitserklärungen der Politiker nach jedem Einzelfall helfen nicht weiter!
Und weil das Wort von B. Brecht – leider – stimmt:

Der Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch!

bin ich glücklich, dass es die Veranstaltung der Gleichgesinnten gibt!

Liebe Freunde,
lass uns zusammen stehen:

Für eine freiheitlich – demokratische Grundordnung in
einem Rechtsstaat für den Schutz der Menschenwürde, die
allen zustehen, die in unserem Land leben,

Für eine offene, tolerante Gesellschaft, in der alle
Menschen selbstbestimmt und ohne Ausgrenzung leben können,

Für die gewiss nicht einfache Suche nach vernünftigen
Lösungen für die komplizierten Probleme unserer Zeit
in einem fairen, respektvollen demokratischen Meinungsaustausch
unterschiedlicher politischer Überzeugungen,

Für Zivilcourage, das heißt mutiges Eintreten für die
Wahrung menschlicher und demokratischer Werte

und wir fordern:

keine neuen Gesetze, die gegebenenfalls unter dem Deckmantel der Sicherheit demokratische Grundrechte einschränken,

sondern

konsequente Anwendung bestehender Gesetze zur Bestrafung
antisemitischer, rassistischer, ausländerfeindlicher, 
rechtsterroristischer Verbrechen!

und lasst uns alle gemeinsam darüber nachdenken, wie wir den noch immer latenten Alltagsrassismus auch aus unserem Sprachgebrauch verbannen können!
Dazu empfehle ich allen das Buch von Alice Hasters, erschienen im Hanserverlag:

„Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen,
aber trotzdem wissen sollten“

Liebe Freunde,

zum Schluss möchte ich – quasi als Fazit zu allem, was mir das 09. November persönlich und was dieses Datum in der deutschen Geschichte betrifft – noch einen Vorschlag unterbreiten.
Dieser ist jetzt 30 Jahre alt!
Ich habe ihn nicht erfunden, möchte aber uns allen ans Herz legen, für seine Verwirklichung zu kämpfen.

Geboren wurde er am Zentralen Runden Tisch in Berlin, als die damaligen neuen Bürgerbewegungen und Parteien der DDR – bereits im Hinblick auf die sich abzuzeichnende Herstellung der Einheit Deutschlands
einen Entwurf für eine Verfassung eines „Bundes demokratisch verfasster deutscher Länder“ erarbeitet,
in der Volkskammer der DDR beraten und zu gleichem Zweck für den Deutschen Bundestag an den damaligen Bundeskanzler übergeben haben.
Allerdings hat Herr Kohl seinerzeit den Bundestag nicht einmal offiziell über den Eingang des Papiers informiert!

Nun abgesehen davon, ob Grundgesetz oder eine neue Verfassung, Teil des Vorschlags war eine deutsche Hymne, deren Text wirklich in allen Versen gesungen werden kann!
Vorgeschlagen war die Kinderhymne von B. Brecht, mit der Melodie von Hans Eisler, des großartigen detusch-jüdischen Komponisten!

Wäre das nicht ein Signal – und was für eines – von Politik, Staat, Zivilgesellschaft an die ganze Welt, wenn diese Hymne zweier von den Nazis vormals aus Deutschland vertriebener Künstler bei offiziellen Anlässen gesungen würde!

Machen wir diesen Vorschlag uns zu eigen, kämpfen wir dafür, damit es eines Tages heißen kann:

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
dass ein gutes Deutschland blühe,
wie ein anderes gutes Land.
Und nicht über und nicht unter
anderen Völkern wollen wir sein!
Von der Ostseee zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein!
Und weil wir dies‘ Land lieben,
schützen und beschirmen wir’s!
Und das liebste mag’s uns scheinen,
so wie alle Völkern ihr’s!

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