Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022

Wie schon in den vergangenen Jahren möchten wir die Zeit zum Jahresende nutzen, um das zurückliegende Jahr Revue passieren zu lassen. Das Jahr 2022 war rückbetrachtend gespickt mit unterschiedlichsten Themen und Themenfeldern:

Corona/Querdenken-Szene

Wie auch im Jahr 2021 ist insbesondere die Querdenken-Szene Sammelbecken für Verschwörungserzählungen jedweder Couleur und Antisemitismus im Besonderen gewesen. Neu waren in diesem Jahr auch offen auf die Straße getragene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sowie das Tolerieren von offen Rechtsradikalen in der Mitte der Szene.

Staatssturz, Holocaustrelativierungen und Verschwörungserzählungen

Zu Beginn des Jahres konnte die in der Querdenken-Szene stattfindende Radikalisierung wie unter einer Lupe beobachtet werden. In der Telegram-Gruppe “UNBESIEGBAR” (der Gruppenname wurde inzwischen mehrfach geändert) wurde unverhohlen vom Staatssturz geträumt, verschiedenste Verschwörungserzählungen bedient und der Holocaust relativiert. Das veranlasste den Administrator Mark M. dazu, einen Promi der Querdenken- und Reichsbürger-Szene, den Vegan-Koch Klaus Peter Attila Hildmann, um Unterstützung der Arbeit in Essen zu bitten. Kurz drauf ergoss sich infolgedessen ein antisemitisch-rechtsradikaler Schwall des Hasses.

Eine aus dem Querdenken-Spektrum angemeldete Versammlung in Rüttenscheid war dann Anlass für uns genug, zusammen “Gegen Leerdenken und rechte Hetze” zu demonstrieren. Dass aus der Szene buchstäblich auf den Gräbern von seinerzeit 117.000 Verstorbenen getanzt wurde, war ein erster Vorgeschmack der sich uns offenbarenden darwinistischen Menschenfeindlichkeit der Gruppe in dem noch jungen Jahr.

Das Aggressionspotential der Szene zeigte sich eindrucksvoll, als Impf-Gegner*innen bewaffnet versuchten eine Impf-Aktion zu stören. Nur durch eine frühzeitige Veröffentlichung weiterer Pläne der Szene konnte eine Wiederholung der Störung verhindert werden.

Bedauerlicherweise finden sich in allen Schichten Anhänger*innen der Querdenken-Bewegung. An einer Essener Schule unterrichtet beispielsweise ein Lehrer, der versucht hat, einen seiner ehemaligen Schüler*innen zu verklagen, da dieser ihn bei einer Querdenken-Veranstaltung in Berlin erkannte und das kritisierte. In Berlin kündigte die Szenegröße Artur Helios – der wegen eines Hitlergrußes verurteilt wurde – den Lehrer, Oberstudienrat und “Freund der ersten Stunde” an, den er im Mai bei einem “konspirativen Treffen” kennengelernt habe an.

Mischszene

Über das Jahr hinweg war eine Radikalisierung der schrumpfenden Querdenken-Szene zu bemerken. Vielen Gruppen laufen die Anhänger*innen weg. Diese versuchen in Kooperationen mit Rechtsradikalen oder Hooligans die Abwanderung aufzufangen, was zu weiteren Abwanderungen führt. Im November mobilisierte dann die Gruppe “NRW erwacht!” zu einer “Großdemonstration” nach Essen.

Bemerkenswert an der Versammlung war die offen zur Schau getragene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Einigte man sich bisher in den Querdenken-Gruppen noch darauf, die “Menschheitsfamilie einen” zu wollen, war eines der Kernmobilisierungsthemen der Hass auf die LGBTIQ*-Community. Aber auch Antisemitismus diente als Hebel zur Mobilisierung möglichst Vieler:

Ukraine

Am 24. Februar 2022 startete ein von Russland ausgehender groß angelegter Angriff auf die Ukraine mit dem Ziel, das Land zu annektieren, wie es schon 2014 mit der Krim-Halbinsel geschehen war. Der Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Gemeinsam mit weiteren Essener Organisationen forderten wir die russische Regierung auf, sofort alle Angriffe einzustellen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und deren territoriale Integrität wieder herzustellen und wünschen den Ukrainer*innen “myr i svoboda” – Frieden und Freiheit.

Im Krieg stirbt die Wahrheit als Erste. Kaum verwunderlich, dass die Querdenken-Szene nur all zu willfährig auf den Propagandazug aus Russland aufgesprungen ist und ihre Solidarität mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auch hier in Essen zum Ausdruck gebracht hat.

Antisemitismus

Antisemitismus ist auch 2022 eine der Säulen rechten und rechstradikalen Treibens gewesen. Besonders in der Querdenken-Szene bricht sich Antisemitismus immer wieder Bahn, beispielsweise, wenn hinter der Architektur des RWE-Turms ein Davidstern vermutet und abgeleitet wird, Jüdinnen*Juden würden die Geschicke sämtlicher finanzkräftiger Organisationen lenken.

Im November wurde auf das Rabbinerhaus an der Alten Synagoge geschossen. Die vier aus einer scharfen Waffe abgegebenen Kugeln trafen die Eingangstür und eine Fensterscheibe. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. In Anbetracht dieses antisemitischen Terrorakts haben wir zu einer spontanen Mahnwache auf dem Edmund-Körner-Platz aufgerufen. Neben Dr. Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge und einer Vertreterin der DGB Jugend MEO, haben auch wir versucht die richtigen Worte zu finden.

Kurz nach dem Anschlag auf das Rabbinerhaus fand in unmittelbarer Nähe eine antisemitische, weil das Existenzrecht Israels negierende Versammlung von “Samidoun Deutschland” statt, die wir dokumentiert haben:

Fußball

Schon seit Jahren beschäftigen wir uns aus antirassistischer und antifaschistischer Perspektive mit dem Themenfeld Fußball. 2022 haben wir die Arbeit abermals intensiviert.

Bei der Siegesfeier von Rot-Weiss Essen kam es am 15. Mai im Stadion zu einem dokumentierten “Sieg Heil!”-Ruf:

Der Verein beginnt sich inzwischen zu bewegen. Neben einem hauptamtlichen Fan-Beauftragten wurde im Juni die Vereinssatzung grunderneuert, wodurch der Verein deutlich aktiver und selbstbestimmter gegen Rassismus vorgehen kann.

Dass jedoch ausgerechnet ein Mitglied des Trainerstabs zusammen mit den rechtsradikalen “Guerreros”, dem Kampfsportclub der rechtsradikalen “Steeler Jungs” zusammen trainiert hat, belegt, wie lang der Weg für den Verein noch sein wird. In der Dokumentation “Wie Rot-Weiss Essen und SSV Ulm gegen rechtsextreme Fans vorgehen” von Sport Inside wurde aufgedeckt, dass das Training mit den “Guerreros” kein Einzelfall war, sondern mindestens zwei Mal stattfand.

Rechtsradikalismus

„Steeler Jungs“

Die “Steeler Jungs” treiben in dieser Konstellation und unter diesem Namen seit 2016 ihr Unwesen in der Stadt. Vonseiten der Stadt ist bislang noch kein zielgerichtetes Programm vorgelegt worden, wie wir im August befunden haben: Zu zaghaft, zu reaktiv, zu spät, zu wenig zielgerichtet.

Hakenkreuze

Immer wieder fallen Hakenkreuze im öffentlichen Raum auf. Zuletzt im Oktober, als in einem Personenaufzug Hakenkreuze und “SS”-Runen geschmiert und in das Glas geritzt wurden:

“Hitler-Gruß”

Nach einem rassistischen Angriff in Borbeck hat die Polizei einen Verdächtigen identifiziert, der einen Hitler-Gruß gezeigt haben soll.

Rechtsterrorismus

Im Mai wollte ein rechtsradikaler Schüler mit Rohrbomben, Messern und Macheten am Essener Don-Bosco-Gymnasium möglichst viele Schüler*innen und Lehrer*innen umbringen. Dank eines aufmerksamen Mitschülers konnte die Terrorattacke vereitelt werden. Niemand ist ernsthaft zu Schaden gekommen. Gegen den mutmaßlichen Terroristen ist inzwischen Anklage erhoben worden.

“Alternative für Deutschland”

Zwar fand die meiste Bewegung der rechten Szene innerhalb der nicht-parteigebundenen Zusammenhänge statt. Die “Alternative für Deutschland” war jedoch nicht untätig und veranstaltete ausgerechnet am 1. Mai eine Versammlung in Altenessen.

Bedauerlicherweise bekam die AfD wieder Sitze im Landtag NRW. Die aus Essen stammenden Zahlen haben wir hier zusammengetragen und analyisiert.

Polizei

Nachdem jugendliche Seminarteilnehmer*innen in Essen-Steele von “Steeler Jungs” bedroht und sogar mit einem Messer eingeschüchtert wurden, dauerte es über 2 Stunden, bis die zur Hilfe gerufenen Einheiten der Polizei eintrafen. Eine Farce. Der Landesjugendring NRW hat daraufhin einen bemerkenswerten Offenen Brief verfasst, der das Geschehene aufarbeitet und Forderungen stellt.

Im Jahr 2022 war aber auch Zeit, einmal zurück in das Jahr 2020 zu schauen, als rechtsradikale Chat-Gruppen bei der Polizei Essen/Mülheim aufgeflogen sind. Wir meinen: Auch nach zwei Jahren lässt die Polizei Essen/Mülheim die nötigen Konsequenzen und Erkenntnisse vermissen:

Kurz vor Ende des Jahres trat der bisherige Polizeipräsident Frank Arno Richter aus gesundheitlichen Gründen mit sofortiger Wirkung zurück. Auf ihn folgt Andreas Stüve, von dem wir nicht nur mehr Aufarbeitung im Fall der rechten Chatgruppen und von rassistischer Polizeigewalt in Essen und Mülheim, sondern auch endlich ein Ende der über Jahre eingeübten Praxis des Wegsehens und der Nachsichtigkeit bei rechten Demonstrationen und Kundgebungen erwarten.

Überregionales

Als Essen stellt sich quer befassen wir uns mit alten und neuen Nazi-Umtrieben in und um Essen. Unser Fokus liegt dabei ganz konkret auf Bewegungen innerhalb dieser Stadt. Von Zeit zu Zeit bietet sich jedoch auch die Gelegenheit über die Stadtgrenzen hinaus zu schauen.

Über die Beteiligung eines Kampfsportlers aus Essen sind wir auf “Frontiére – Respect of the streets” aufmerksam geworden und haben den Club und die Szene über Wochen und Monate beobachtet. “Frontiére” wirbt damit, als “Underground Fight Club” angeblich “Sozialarbeit” zu leisten. Dass aber Protagonisten des Zusammenhangs ihre rechtsradikale Gesinnung offen zur Schau stellen, steht dem entgegen, wie hier in einem Bericht von Baden TV Süd zu sehen:

Unsere Recherchen konnten den Redakteur*innen von Stern und Spiegel helfen, den Club besser einzuordnen.

Gedenken in Essen

Auf der Klausur von Essen stellt sich quer wurde unser Selbstverständnis zeitgemäß aktualisiert. Nach wie vor konzentrieren wir uns als Bündnis auf die Erinnerungs- und Gedenkarbeit, beispielsweise durch Beteiligungen am Holocaust Gedenktag am 27. Januar, am Gedenken an die Pogrome von 1938, oder durch Putzen von Stolpersteinen:

Erfreuliches

Neben den Sachen, die uns aufgerieben haben, gibt es aber auch immer wieder schöne Momente!

Veranstaltungsreihe

Nachdem wir 2021 mehr oder minder aus der Not heraus geboren eine Online-Veranstaltungsreihe auf die Beine gestellt haben, sind wir mit der Reihe 2022 in die zweite Runde gegangen. Dieses Jahr haben wir sechs Veranstaltungen, Das neue Versammlungsgesetz NRW, Gaming und Rechtsextremismus, Querdenken, Die radikalisierte Mitte, Bloggen gegen Rassismus und Klimarassismus veranstaltet und 222 Anmeldungen verzeichnen können.

Zuwachs

Mit Mut machen – Steele bleibt bunt! wächst unser Bündnis auf insgesamt 26 Bündnisorganisationen an. Wir freuen uns, unsere Freund*innen aus Steele nun auch als offiziellen Teil unseres Bündnisses willkommen zu heißen!

Essen stellt sich quer – wer ist das?

Danke!

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